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Bundesgericht öffnet der Anarchie Tür und Tor

Mit solch fadenscheinigen Begründungen würde jeder Kandidat haushoch durch ein Anwalts-Abschlussexamen rasseln. Und so etwas kann sich nur das Bundesgericht leisten, weil weiter oben keine Instanz mehr folgt, lautete gestern der einhellige Kommentar fachkundiger Mobilfunk-Kritiker zum neuesten Mobilfunk-Bundesgerichtsurteil.

Hans-U. Jakob, 20.9.06

Die Sendeleistungen und die vertikalen Abstrahlwinkel von Mobilfunkantennen können, von den Steuerzentralen der Mobilfunkbetreiber aus, jederzeit ferngesteuert nach Belieben verändert werden.
Das heisst, die in einem Baugesuch deklarierten Parameter dienen lediglich dem Nachweis, dass bei den nächstliegenden Orten mit empfindlicher Nutzung, wie Wohnungen, Schulen, Spitäler, Bürokomplexe etc. die Grenzwerte rein rechnerisch eingehalten sind. Auf dem Papier geht bei den Planern bekanntlich alles. Was später ferngesteuert erfolgt, bleibt der betroffenen Bevölkerung verborgen.

Mit Urteil 1A.160/2004 vom 10.März 05 verlangte das Bundesgericht deshalb erstmals objektive und überprüfbare bauliche Vorkehrungen, also klare Hardwareanpassungen an den Antennen und Senderendstufen damit die Einhaltung der in der Baubewilligung deklarierten Werte, die sich stets knapp am allerobersten Rand des Erlaubten bewegen, gewährleistet bleibe.

Mit dieser Darlegung meinte das Bundesgericht unseres Erachtens eindeutig die Verwendung von Leistungsbegrenzern an den Senderendstufen und den Einbau von hardwareseitigen Winkelbegrenzern an den Antennen. Diese Lösung passte den Mobilfunkbetreibern überhaupt nicht ins Konzept und sie begannen mit Hilfe ihrer Freunde bei den Bundesämtern BAFU und BAKOM sowie bei den politisch gelenkten kantonalen Umweltämtern das höchstrichterliche Urteil zu unterlaufen.
Dies mit einer Computersoftware, die von den Mobilfunkbetreibern selbst in ihren Steuerzentralen eingebaut werden solle und im Falle eines Ueberfahrens der bewilligten Parameter, eine Fehlermeldung auszudrucken habe.

Gegen diese Retourkutsche, von den Mobilfunkbetreibern und ihren Freunden „Qualitätssicherungssystem“ (QS), von Mobilfunkkritikern dagegen sehr liebevoll „Mistkarren“ genannt, wandten sich in der Folge zahlreiche Einsprechergruppen und Beschwerdeführer. Einzelne Gemeinden vefügten deswegen sogar ein Antennenmoratorium. Nun hat sich am 6.9.06 das Bundesgericht erstmals materiell mit dem QS-System auseinadergesetzt und gegenüber dem Urteil 1A.160/2003 vom März 05 eine Kehrtwende um 180° vollzogen.

Die formalisierte Selbstkontrolle
Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass sich die Mobilfunkbetreiber mit dem QS-System, welches zur Zeit erst in der Entwicklung steckt und noch nirgends eingebaut ist, sehr wohl selber überwachen dürfen.
Es genüge, meint das Bundesgericht, wenn die Mobilfunkbetreiber alle 2 Wochen ihre ausgedruckten Fehlermeldungen den kantonalen Umweltfachstellen zur Kenntnisnahme zustellen würden.

Und die Kontrolle, ob das QS-System ordnungsgemäss funktioniere, müsse nicht etwa einer Behörde übertragen werden, meint das Bundesgericht, es genüge wenn dies eine externe private Auditfirma im Auftrag der Mobilfunkbetreiber mache. Das Bundesgericht spricht explizit von einer „formalisierten Selbstkontrolle der Mobilfunkbetreiber“. Selbstverständlich sieht die bundesgerichtliche Lösung auch keinerlei Sanktionsmassnahmen gegen Fehlbare vor.

Tauglichkeitskontrolle am St. Nimmerleinstag
Es erscheine unzweckmässig, meint das Bundesgericht weiter, bereits jetzt eine Expertise über die Tauglichkeit des QS-Systems einzuholen. Es sei später, das heisst frühestens nach einem Jahr, Sache der kantonalen Behörden, diese Tauglichkeit zu beurteilen. Weil erfahrungsgemäss die kantonalen Fachstellen mit solchen Problemen von der Fachkundigkeit, wie von der Anzahl der Stellen her hoffnungslos überfordert sind, kann schon heute gesagt werden, dass eine ernsthafte Tauglichkeitskontrolle mit Sicherheit erst am St. Nimmerleinstag stattfinden wird.

Das Bundesgericht begibt sich mit dieser Lösung bewusst an den Rand des Abgrundes. Diese formalisierte Selbstkontrolle könnte sich nämlich ebensogut zu einer formlosen Selbstjustiz der Bevölkerung entwickeln! Das Bundesgericht wäre gut beraten, sich einmal die rasch ansteigende, brodelnde Einsprachenflut vor Augen zu führen und sich zu fragen, wann der Siedepunkt erreicht sein wird.

Auch mit der Messbarkeit von UMTS-Strahlung begibt sich das Bundesgericht im selben Urteil 1A.57/2006 vom 6.9.2006 auf eine bedenklich schiefe Ebene.
Wegen dieser höchst ungenügenden Messbarkeit haben sich ebenfalls viele Einsprechergruppen und Beschwerdeführer bis ans Bundesgericht durchgekämpft. Die Bundesämter BAFU und BAKOM haben dabei stets behauptet, UMTS-Strahlung sei genügend gut messbar um die Einhaltung der Grenzwerte nachzuweisen. Dies obschon der METAS-Bericht vom 10. Novemer 05 Differenzen von Faktor 4.3 (430%) zwischen den diversen (sehr teuren) Messgeräten und Messfirmen nachwies.

Das Bundesgericht hütet sich in seinem neuesten Urteil strikte davor, irgendwelche Zahlen zu nennen. Es spricht lediglich davon, dass die Streuung der Messwerte tatsächlich hoch war und dass METAS jetzt durch Nachkalibrierung eine beträchtlich niedrigere Streuung erreicht habe. Um wieviel sich diese Streuung verbessert hat veschweigt das Bundesgericht wohlweislich. Denn wie Gigaherz aus zuverlässiger Quelle weis, liegt diese immer noch über plus minus 45%. Das ist unseres Erachtens für amtliche Kontrollen absolut unhaltbar.
Denn wir sind von der Stufe „hoch daneben“ erst auf der Stufe „beträchtlich daneben“ angelangt. Wir könnten bestenfalls ein „knapp daneben“ akzeptieren.
Schutzorganisationen wie Gigaherz oder Bürgerwelle werden sich wohl in Zukunft vermehrt selbst mit diesem leidigen Thema beschäftigen, und die Bevölkerung aufklären müssen.

Auf den Strassenverkehr bezogen könnte die neueste bundesrichterliche Rechtsprechung etwa lauten: Radarkontrollen sind ab sofort unnötig. Jeder Automobilist sendet im Rahmen einer formalisierten Selbstkontrolle alle 2 Wochen eine schriftliche Fehlermeldung an das Strassenverkehrsamt, welche beinhaltet, wann und wo er zu schnell gefahren ist. Geschwindigkeitsübertretungen werden nicht mehr geahndet und amtliche Ueberprüfungen der Tachometer dürfen Anzeigefehler von plus minus 45% aufweisen.

Für dieses Urteil verantwortlich zeichneten folgende Bundesrichter:
Féraud (Präsident), Aemisegger, Reeb, Fonjallaz und Eusebio.

BAFU = Bundesamt für Umweltschutz
BAKOM = Bundesamt für Kommunikation
METAS = Bundesamt für Metrologie und Akkreditierung

Urteil Nr.1A.57/2006 vom 6.9.06, den Parteien zugestellt am 19.9.06

Vorgeschichte unter:

Retourkutsche oder Mistkarren? (unter WHO/ICNIRP/CH-Behörden)

Artikel 1049 (aus dem Archiv)

Artikel 1060 (aus dem Archiv)

Von Hans-U. Jakob

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