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Güllen ist überall

Güllen ist überall

Ein Beitrag von Evi Gaigg, 2.6.06

Die Käuflichkeit geht, wie wir wissen, zurück bis in biblische Zeiten, als Esau seinem Bruder Jakob das Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft hat. Die Käuflichkeit hat seither immer wieder Dichter und Schriftsteller beschäftigt. Kannte der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt seine Landsleute so gut, dass er sein makabres Drama „Der Besuch der alten Dame“ nach Güllen verlegt hat, in eine zwar nichtexistente Stadt, aber in eine unverkennbar schweizerische ? Wie war das doch gleich?

Da hat ein gewisser Alfred Jll seine Freundin Kläre Wäscher mit einem unehelichen Kind sitzen lassen und einen Meineid geschworen, um sie nicht heiraten zu müssen. Kläre verlässt Güllen, versucht ihr Glück mit käuflicher Liebe in verschiedenen Bordellen, heiratet einige Male wohlhabende Männer, und bringt es zu sagenhaftem Reichtum.

Nach Jahrzehnten ist für sie die Stunde der Rache gekommen. Sie kehrt als Claire Zachanassian in einem Sonderzug zurück, zieht sogar die Notbremse, zum Zeichen, dass sie, weil sie reich ist, alles darf. Sie verspricht dem heruntergekommenen Städtchen als Geschenk eine Milliarde Franken, wenn sie sich dafür Gerechtigkeit erkaufen kann.

Die Gemeinde empfängt sie mit Bürgermeister, Pfarrer, Männerchor und Musikkapelle. Sie selbst kommt mit Ehegatten VII-IX und zwei Butlern und lässt einen schwarzen Sarg und Blumenkränze ausladen. Ihre Schönheit ist dahin, aber sie hat alles und kann sich für ihr Geld nichts mehr kaufen. Längst gehört ihr auch Güllen, weil sie alles hat aufkaufen lassen, was sich dort befindet.

Ihr einziger Wunsch: späte Rache an Alfred Jll. Für ihr grosszügiges Geldgeschenk verlangt sie, dass dieser getötet wird. Die Bürger weisen ein solches Ansinnen entrüstet zurück. Die Moral lässt Solches nicht zu. Aber je länger es dauert, desto mehr beginnt man diesen Begriff hin- und herzudrehen, anders zu deuten, bis man zur Erkenntnis gelangt, die Interessen von Güllen seien höher zu bewerten als das Leben von Alfred Jll. Wie die Bürger anfangen, in seinem Krämerladen Waren auf Kredit zu kaufen, da fasst dieser das ganz richtig als sein Todesurteil auf – und es wird vollstreckt, Moral hin oder her.

Güllen existiert immer noch, wenn auch die Personen und Orte der Handlung andere Namen tragen. Die Käuflichkeit ist geblieben, wir erleben sie täglich.

Manch einer verkauft seine Moral, sprich: sein Hausdach oder sein Grundstück für ein paar tausend Franken als Standort für eine Mobilfunkantenne.

Wissenschafter lassen sich kaufen, damit sie die Resultate liefern, die die Industrie von ihnen verlangt oder sie lassen gekonnt so viele Fragen offen, um sich eine Hintertür für weitere Forschungsaufträge zu sichern.

Eine der käuflichsten Organisationen überhaupt ist die Weltgesundheitsorganisation WHO. Spätestens seit der Aufdeckung des Skandals, dass Experten im Auftrag der WHO gleichzeitig für die Tabakindustrie (Philipp Morris) arbeiteten und von dieser dafür bezahlt wurden, dass sie Passivrauchen als unschädlich bezeichneten, ist die WHO im höchsten Mass unglaubwürdig.

Die zwielichtigste Figur in Sachen Elektrosmog, Michael Repacholi, sitzt noch immer fest im Sattel. Am 5. Juli 2005 wurde öffentlich bekannt, dass er jährlich 150 000 US$ direkt von der Mobilfunklobby als Reisespesen und zur Organisation von Meetings kassiert und damit gegen die Regeln verstösst, kein Geld von der Industrie anzunehmen. Er wurde aufgefordert, auf die Veröffentlichung wegen dieser Geldannahme zu antworten und er hat diese nicht bestritten. Repacholi gibt dafür die gewünschten Statements ab und formuliert Beiträge wissenschaftlicher Referenten an Kongressen ohne deren Wissen um.

Gesellschaften, auch weltweit bekannte, die sich ursprünglich den Schutz von Mensch und Natur auf ihre Fahnen geschrieben hatten, lassen sich für viel Geld sponsern und halten sich still, wo sie längst ihre Stimme erheben müssten. Merkwürdig doch, dass sich z.B. Greenpeace und World Wildlife Fund nicht vernehmen lassen.

Krebsliga, Kopfwehgesellschaft, Schlafkliniken, Vogelwarte, Landschaftsschutz u.a. – alle bleiben sie schön im Hintergrund. Geldgeber werden nicht gerne vergrault.

Fernsehen, Radio und Presse haben sich längst mit der Industrie verbündet, suchen dies nicht einmal mehr zu verbergen.

Von der Industrie finanzierte sog. Beratungsstellen medizinischer Natur sagen selbstverständlich den Fragestellern nicht das, was diese wissen müssen, sondern was sie „wissen sollen“.

Krankenkassen, eigentlich dem Schutz der Patienten verpflichtet, halten sich lieber an spendable Unternehmen, auch wenn diese das genaue Gegenteil von dem bewirken, was den Versicherten dient. Finanzielle Interessen sind höher zu bewerten. Der neue Ausdruck dafür heisst „Interessenabwägungen“. Oder so ausgedrückt: eine Hand wäscht die andere.

Sogar Ärzte halten klare Worte zurück, beziehen kaum Stellung, denn volle Wartezimmer und von den Pharmakonzernen fliessende Beträge für verschriebene Medikamente sind lukrativer als ehrliche Diagnosen. Fürs Alarmschlagen gibt es keine Honorare!

Kirchen und Kirchgemeinden haben absolut keine Hemmungen, ihre Kirchtürme für den Einbau von Mobilfunkantennen zur Verfügung zu stellen. Was in Sachen Nächstenliebe am Sonntag in Worten von der Kanzel gepredigt wird, deckt sich leider nicht mit den realen Taten, hat aber viel mit Pharisäertum zu tun. Gut ist alles, was Geld bringt. Käuflich also auch die Kirche!

Die Politik schweigt sich aus, denn auch hier fliessen die Franken der Industrie zur Freude des Finanzministers in die Staatskasse. Und als Alibi für ihr Nichthandeln, wo Handeln schon längst das Gebot der Stunde gewesen wäre, verlässt sie sich auf Organisationen, wie oben erwähnt, auf die WHO, die für sie immer noch eine Art heilige Kuh ist.

Die Justiz ist inzwischen recht geübt in der Beurteilung der Fälle, zu Gunsten der reichen Industrie und nicht zu Gunsten der benachteiligten Bürger.

Noch andere Parallelen und Schlussfolgerungen finden wir in Dürrenmatts bitterbösem Lehrstück zur Käuflichkeit:

Wer reich ist, darf sich alles erlauben, d.h. im konkreten Fall darf er sogar die Gesundheit von Menschen gefährden und ihr Eigentum entwerten, ohne Einbussen oder gar Strafen zu riskieren. Das symbolische Ziehen der Notbremse, das dem Normalbürger Strafen einbringt, wird ihm ohne nachteilige Folgen gestattet.

Und: Man muss nur lange genug Überzeugungsarbeit leisten, dass alles nicht so schlimm ist, wie man anfangs meint. Denken ist für manche unbequem und könnte eventuell das Gewissen wecken.

Die Reihe der Nachfahren der Güllener Bürger liesse sich beliebig fortsetzen. Jeder von uns kennt sicher einige solche „Güllener“ in seiner Umgebung.

Dürrenmatts Schlussfolgerung: Für Geld kann man alles kaufen, sogar Moral und subjektive Gerechtigkeit.

Friedrich Dürrenmatt hat die Menschen gut gekannt – vor allem ihre Käuflichkeit.

Nachtrag: Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“ ist 1956 entstanden. Die beiden erwähnten Butler waren übrigens Eunuchen. Hatte der Autor etwa schon zu dieser Zeit die Vision vom Handy? Könnte doch sein, dass die steinreiche Claire Zachanassian bereits damals eins hatte und ihre Butler anwies, dieses zwecks ständiger Erreichbarkeit im Hosensack mitzutragen — mit ganz bestimmten Folgen, über die man heute hochwissenschaftliche Forschungen betreibt…..

Von Hans-U. Jakob

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