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Bern zieht als erste Gemeinde die Notbremse

Bern zieht als erste Gemeinde die Notbremse

Der Beitrag /das-bundesgericht-baut-uns-eine-notbremse/ und das darin erwähnte Bundesgerichtsurteil haben viel weitreichendere Folgen als angenommen. Seit September dieses Jahres hätten in der Schweiz keine Mobilfunkantennen mehr bewilligt werden dürfen. Der ganz dicke Skandal folgt aber erst am Schluss dieses Beitrages.

Hans-U. Jakob, 21.11.05

Die neue Regelung des Bundesgerichtes, wonach die Mobilfunkbetreiber in den Standortdatenblättern der Bauausschreibung unter Sendeleistung in Watt ERP keine Phantasiezahlen mehr einsetzen dürfen, die den Betrieb einer kriminell angebrachten Antenne noch gerade erlaubt hätte, sondern die Maximalleistung der verwendeten Senderendstufen multipliziert mit dem Antennengewinn abzüglich der Kabelverluste, führt jetzt tatsächlich zu einer unerwarteten Notbremsung im Antennenwildwuchs.
Denn diese neu zu berechnende Maximalleistung ist in den meisten Fällen einige Zehnerfaktoren höher als die bisher jeweils in den Standortdatenblättern von den Betreibern deklarierte Leistung und führt in praktisch allen Fällen zu einer theoretisch möglichen Grenzwertüberschreitung.
Zur Erinnerung nochmals das Zitat aus dem Bundesgerichtsurteil 1A.160/2004 vom 10.3.05:

Die Sendeleistung der Mobilfunkstationen kann vom Netzbetreiber mittels
Fernsteuerung reguliert werden, allerdings nur bis zur Maximalleistung der
verwendeten Senderendstufen (vgl. BGE 128 II 378 E. 4.2 S. 380). Ist die im
Standortdatenblatt deklarierte ERP niedriger als die maximale
Strahlungsleistung der Anlage, so besteht keine Gewähr dafür, dass die
Grenzwerte im Betrieb tatsächlich eingehalten werden, da die
Strahlungsleistung jederzeit mittels Fernsteuerung erhöht werden könnte. Die
Anwohner von Mobilfunkanlagen haben jedoch ein schutzwürdiges Interesse
daran, dass die Einhaltung der NIS-Grenzwerte durch objektive und
überprüfbare bauliche Vorkehrungen gewährleistet wird.

Statt selber aktiv zu werden, überlässt das offensichtlich in technischen Belangen ratlose Bundesgericht diese Gewährleistung überprüfbarer baulicher Vorkehrungen schlicht und einfach den Vollzugsbehörden auf Stufe Gemeinde.
Dass diese noch ratloser sind als das Bundesgericht hat man kommen sehen. Denn auf dieser Stufe arbeitet man mit Senkel und Doppelmeter (Senkblei und Zollstock) und nicht mit Spektrum-Analysator und Messempfänger.
Was machen die Gemeinden in dieser Situation? Sie wenden sich an die Umwelt- oder NIS-Fachstelle ihres Kantons wo man auch nichts anderes kann als bis zur Bewusstlosigkeit das vorzulesen, was ihnen einst vom Bundesrat und BUWAL vorgebetet wurde, aber jetzt plötzlich nicht mehr stimmt.

Als erste Schweizer Gemeinde hat es nun der Mobilfunk-überfluteten Stadt Bern den „Nuggi herausgetätscht“. (Den Schnuller aus dem Mund gespickt).
In einer Verfügung vom 17.11.05 wird das Gesuch um Hochrüstung der Antenne auf dem Gebäude Viktoriastrasse 72 vom Bauinspektorat der Stadt Bern mit dem lapidaren Satz sistiert:

Aus verwaltungsökonomischen Gründen wird das Baubewilligungsverfahren erst nach den Verhandlungen zwischen BUWAL, BAKOM, dem Cercl??? d???Air und den Mobilfunkbetreibern bezüglich Sicherstellung der bewilligten Sendeleistung und der Tiltbereiche wieder aufgenommen

BUWAL=Bundesamt für Umwelt Wald und Landschaft
BAKOM=Bundesamt für Kommunikation
BAG=Bundesamt für Gesundheit
Cercel d???air=Vereinigung der kantonalen Umweltfachstellen (Luftreinhaltung)

Das heisst im Klartext: Die Gemeinde Bern gibt jetzt den ihr vom Bundesgericht untergeschobenen „Schwarzen Peter“ einfach wieder nach oben weiter, indem sie laufende Baugesuche einfach sistiert.

Das hat Präjudizcharakter für alle 2600 Schweizer Gemeinden. Denn Bern ist immerhin Hauptstadt und spielt eine Vorreiterrolle.

Das kann heiter werden und vor allem kann das dauern.
Denn dem BUWAL haben sparwütige Politiker Stellen und Kredite gestrichen und die werden dort nicht so rasch zu einer Lösung kommen.

Dann kann diese Lösung wiederum durch alle Instanzen bis zum Bundesgericht hochgezogen werden, denn die Bundesämter haben keinerlei Weisungsbefugnis, sondern lediglich beratende Funktion.

Für Antennenkritiker, Einsprecher und Beschwerdeführer heisst das jetzt:
Ja nicht etwa die Hände in den Schoss legen, sondern auf Grund des Bundesgerichtsurteils 1A.160/2004 vom 10.3.05 die Sistierung aller laufenden Baugesuche verlangen. schriftlich mittels eingeschriebenem Brief. Denn ohne diese schriftliche Intervention läuft alles weiter wie bisher.
Und Behörden die nicht spuren, mit Strafanzeigen wegen Amtsmissbrauch nach Art 312 Strafgesetzbuch drohen. (Zuchthaus bis zu 5 Jahren)
Denn die bisherige Bewilligungspraxis ist klar ausser Kraft gesetzt. Die Behörden hätten 7 Monate Zeit gehabt, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Jetzt wird die Notbremse gezogen!

Haben wir den Antennenbau einmal zum Erliegen gebracht, sehen wir weiter, was mit den früher erstellten Atennen zu geschehen hat.

Es kommt noch besser:
Nicht nur die Sendeleistung ist fernsteuerbar, sondern auch noch der Winkel, mit welchem die Antenne leicht abwärts geneigt wird. Man spricht hier, im Gegensatz von einem fest verschraubten mechanischen Einstellwinkel, zusätzlich noch von einem fernsteuerbaren elektrischen Einstellwinkel. (Electrical Tilt) Der mechanische plus der elektrische Einstellwinkel ergeben dann zusammengerechnet den gesamten Neigungswinkel in Grad aus der Horizontalen.

Dieser gesamte Neigungswinkel kann an einem angestrahlten Ort empfindlicher Nutzung (OMEN) enorm viel ausmachen.

Sehen sie dazu genau das nachstehende Strahlungsbild an. Ob eine Antenne -2? oder -12? aus der Waagrechten abwärts gerichtet wird, kann an einem bestrahlten Ort in V/m (Volt pro Meter) gerechnet bis zu Faktor 5.5 mehr ausmachen.
Wenn im Standortdatenblatt an OMEN xy in der Baueingabe 1.2V/m steht, kann das ohne Weiteres 6.6V/m und somit eine Grenzwertüberschreitung von 32% bedeuten.
OMEM=Ort mit empfindlicher Nutzung

Bisher war es den Betreibern freigestellt, beim elektrischen Neigungswinkel ebenfalls eine passende Phantasiezahl zu deklarieren, welche den Betrieb einer kriminell angebrachten Antenne noch gerade erlaubt hätte.

Buwalstrahlung.JPG
Bild: CH-Bundesamt für Umwelt Wald und Landschaft (BUWAL)

Auch dieser Mogelei macht jetzt das Bundesgericht den Garaus.
Es geht ab sofort nicht mehr, elektrische Neigungswinkel von 0? oder ???2? anzugeben, nur damit der Grenzwert schön passend eingehalten werden kann. Nein es muss jetzt der gesamte mögliche, fernsteuerbare Winkel, welcher je nach Antennentyp zwischen -8 und -12? liegt, beweiskräftig angegeben werden. Das heisst, dass die vollständigen Datenblätter der Antennenhersteller einer Bauausschreibung beiliegen müssen.

Auch hier möchte das Bundesgericht die Kontrolle der Berechnungen mit den Antennendiagrammen und den Datenblättern der Antennenhersteller den Vollzugsbehörden auf Stufe Gemeinde übertragen. Das kann heiter werden! Denn mit Senkel und Doppelmeter lässt sich hier nichts überprüfen

FAZIT:
Für Einsprecher gegen Mobilfunkantennen gilt ab sofort:
Sämtliche Standortdatenblätter als „falsch deklariert“ zurückweisen.
Gutachten durch Mobilfunk-unabhängige Fachstellen verlangen.
Kantonale Fachstellen haben in der Vergangenheit auf Geheiss ihrer politischen Vorgesetzten stets Partei für die Mobilfunkbetreiber ergriffen, haben alle oben beschriebenen Mogeleien munter mitgemacht und gedeckt und sind deshalb als befangen zu erklären.

Zum Schluss der ganz dicke Skandal:
Seit heute Abend 17.30 Uhr wissen wir von einem Insider, dass die kantonalen NIS-Fachstellen bereits im September dieses Jahres dahingehend orientiert worden sind, dass sie auf Grund des Bundesgerichtsurteils 1A.160/2004 vom 10.3.05 gar keine Mobilfunkantennen mehr hätten bewilligen dürfen. Stattdessen wurde weitergewurstelt, als ob nichts geschehen wäre.
Mehr noch. Seit heute Morgen 8.30Uhr sitzen die Herren zusammen mit den Verantwortlichen von BUWAL, BAKOM, BAG und natürlich den Mobilfunkbetreibern unter dem Deckmantel eines wissenschaftlichen Seminars auf dem Monte Verita bei Locarno und geniessen auf Kosten der Steuerzahler eine volle Woche Luxus-Zusatzferien mit allem drum und dran und hecken dabei neu Pläne aus, wie man wohl das dumme Volke sonst noch belügen und betrügen könnte.
Monte Verita heisst übrigens Berg der Wahrheit. Welch wundervolles Wortspiel.

Dieser Beitrag hat nichts mit dem durch den Gemeinderat der Stadt Bern beschlossenen Antennen-Moratorium für gemeindeeigenen Liegenschaften zu tun, sondern ist als eigenständiges Ereignis zu betrachten.

Von Hans-U. Jakob

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