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Neue Höhepunkte der Antennen-Bewilligungspraxis

Neue Höhepunkte der Antennen-Bewilligungspraxis

Korrespondent von Gigaherz, 18.12.03

Vom 28. bis am 30. November wurde in der Innerschweizer Stadt X der neuer Bahnhof eingeweiht.Wir können den Namen hier nicht nennen, denn die Behörden fühlen sich angegriffen, wenn man ihnen dauernd am Zeugs herum flickt. Der Name X ist der Redaktion bekannt! Es ist dort, wo (von Zürich her kommend) die Bahnlinien nach Luzern und ins Tessin sich trennen. Genau dort steht der neue Bahnhof, und dort müssen wir guten Mobilfunk-Empfang haben.

Orange allein hat bereits fünf starke Sender im Umkreis von 1 km, sowie acht kleine Anlagen. Der nächste grosse Sender derselben Firma steht keine 300 m weit weg. Es bleibt eines der vielen unerforschlichen Rätsel, wieso bei immer engerem Abstand und kleinerem Versorgungsgebiet die Antennenleistungen stets grösser werden. Aber das darf man sich nicht fragen, denn wir haben vom gesetzlichen Rahmen her GAR KEINEN SPIELRAUM, und MUESSEN ALLES BEWILLIGEN, was uns auf den Tisch kommt. Um Platz zu sparen, wird dieser letzte Satz als REFRAIN wiederverwendet. Jedenfalls werden vom Bahnhof X bald 2160 W ERP in zwei Richtungen, und einmal 1100 W ERP abgestrahlt.

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Der Mann ganz oben Links im Bild ist soeben an der Nische vorbeigegangen

Nun ist X ein Ort gar chic und fein! Da lässt man sich nicht lumpen. Orange schämt sich für die Antennen, man sollte sie nicht sehen – also werden sie diskret versteckt. Der Mann auf dem Bild ist soeben an der Nische vorbeigegangen, wo er später einmal sehr viel mehr Strahlung erhält als erlaubt ist (die Antennen sind noch nicht eingebaut). Die Strahlenquellen kommen nicht auf das Dach hinauf, wo man vom Hauptstrahl mindestens von der Höhe her geschützt wäre. Nein, sie werden elegant in die Lüftungsaufbauten eingebaut. Wer hat schon je versucht, die Formel für die Feldstärke durchzurechnen für einen Abstand von einem halben Meter, und wenn es sein muss für 30 cm ? Bitte nicht versuchen, es gibt unwahrscheinlich hohe Werte! Zuoberst auf dem Dach wäre die Antenne vom Menschenschutz her günstiger gewesen, aber es geht ja selten darum. Denn die NISV gewährt den Behörden… siehe REFRAIN.

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Nach Innen gibt es keine Mauer…….

Nach innen gibt es keine Mauer, nur einen Holzkasten, der selber die Dicke der Mauer einnimmt. Hinter dem Holzkasten ist ein Raum, in dem sich Menschen aufhalten können. Man kann also nicht nur von vorne, sondern auch von hinten 30 cm neben der Antenne stehen – und sieht sie dort ebenfalls nicht. Im Standortdatenblatt wird dieser Ort nicht ausgewiesen, und in der Baubewilligung wird dort keine Messung angeordnet. Mit einer billigen Metallfolie um den Holzkasten hätte man die Strahlung dämpfen können, aber … REFRAIN…

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Hier strahlt bald eine Antenne aus dem Kasten

Hier strahlt bald eine Antenne aus dem Kasten. Wenn jemand vor der Antenne steht, sind die Immissionsgrenzwerte haushoch überschritten. Aber vielleicht steht gar nie jemand auf dem Bahnhof X ? Keine Fensterputzer, keine Dachreparaturen, keine Feuerwehrübungen, weil es an einem Bahnhof ohnehin keine Katastrophen gibt ?? Nicht verzagen, Orange fragen! Wie schon bei der Brauerei Baar, spuckt ihr Computer auch hier getreulich die rührende Antwort heraus: Hier oben arbeitet nur instruiertes Fachpersonal! Stimmt denn das ? Und was heisst „instruiert“, und wie verträgt sich das alles mit der NISV ?

Man kann fragen, wen man will – eine Antwort kommt nicht! Bisher habe ich sechs Amtsstellen angefragt, wie sie diesen komischen Antennen-Standort beurteilen, und welchen Gesetzen „instruiertes Fachpersonal“ unterstellt ist. Zwei Amtsstellen im Kanton X sagen dasselbe wie das hohe zuständige Amt in Bern, nämlich „da sagen wir gar nichts“, das mache alles die Fachstelle des Kantons X. Wie lautet das Sprichwort mit den Krähen ? Im Sinne einer „Zweitmeinung“ habe ich mich auch an die Fachstellen der Kantone Ba und Zü gewandt – sie mögen dies bitte, bitte nicht als Angriff deuten, nur als reine Tatsache! Die Antwort war wieder dieselbe: Dazu sagen wir gar nichts. Ba hat gemeint, ich solle mich direkt an die Ombudsstelle der Mobilfunker (ha, ha, ha) wenden, um dort zu erfragen, ob der Kanton X nicht etwa zu mobilfunkfreundlich sei (wann beginnt eigentlich die Fasnacht ?), und Zü hat vorgeschlagen, ich solle mich an akkreditierte Messfirmen wenden. Das habe ich auch gemacht, unter anderem an die Swisscom, welche das nötige Fachwissen hat, damit sie die Abnahmemessungen ihrer eigenen Antennen fachgerecht durchführen kann. Eine Antwort ist nie gekommen. Niemand will wissen, wie viel Strahlung „instruiertes Fachpersonal“ erhalten darf, und was das für eine geniale Neuschöpfung ist. Und niemand will diesen seltsamen und gefährlichen Antennenstandort in Stadt und Kanton X beurteilen.

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Immerhin verbieten die Behörden das Betreten des Daches

Immerhin verbieten die Behörden das Betreten des Daches. Punktum. Es ist gesperrt, es wird nie und nimmer betreten, das steht so als Auflage zur Baubewilligung. Und daran halten sich alle Berufsleute, die dort oben arbeiten müssen. Vielleicht wird eine Plastic-Kette auf dem Dach echte behördliche Autorität ausstrahlen, ihr gehorcht man blindlings ? Am Ende des Meterstabes auf dem Bild ist (wahrscheinlich) ein Wasserablauf sichtbar. Wenn der einmal verstopft ist ? Wenn es einen See gibt, die Enten baden und brüten ? Wenn aus angewirbeltem Herbstlaub in einigen Jahren Tännchen wachsen, ein Ahorn, drei Birken ? Wir lassen alles ruhig wachsen, denn betreten können wir hier nichts, die Behörden haben es verboten. Wer’s glaubt, bezahlt drei Runden.

Die Tarnung ist fast überall befestigt, das letzte fehlende Stück liegt noch am Boden. Damit man die Antennen nicht mehr sieht, verstecken wir sie elegant. Das wird aber nochmals gefährlicher, denn wer sie nicht mehr sehen kann, wird nicht reagieren. Die Vernunft hat so keine Chance mehr.

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Die Tarnung der Antenne oder der krönende Abschluss

Und jetzt der krönende Abschluss. Die Tarnung der Antennen besteht nicht etwa aus GFK wie in der Ausschreibung gefordert (GFK = Glas-Faser-verstärkter Kunststoff, was die Strahlen kaum beeinflusst), sondern – bitte festhalten – aus einem massiven METALLGITTER! Unmittelbar vor den starken Antennen befinden sich kompliziert geformte Metallteile mit immer wieder anderen Neigungen, welche die Strahlung in alle möglichen Richtungen streuen. Die Antennenfabrik bemüht sich, eine genau berechenbare und reproduzierbare Abstrahlung zu garantieren. Hier wird das alles wieder kaputt gemacht. Die Berechnungen, welche der Baubewilligung zugrunde liegen, sind vollkommen wertlos.

Dass Leistung verschluckt wird, ist ja nicht so schlimm, da lässt sich der Sender wieder aufdrehen, bis das kompensiert ist – das merkt ohnehin niemand. Aber dass es an einzelnen Standorten durch diese unkontrollierbaren Reflexionen auch mehr Strahlung geben kann, wenn der Hauptstrahl gestört wird, das ist schon schlimmer. Man hat keine Ahnung mehr, wohin die Leistung geht.

Wir haben nicht nur den schönsten der neuen Bahnhöfe in der Schweiz, wie haben bald auch diejenige Antennenanlage, deren Baubewilligung auf maximal-unhaltbaren Annahmen beruht. Jetzt denken wir nur noch bange an den armen Berufsmann, der hinter der dünnen Holzverschalung (plus 10 cm Glaswolle) all den gestreuten Wellensalat geniessen darf. Ihm ist der Zutritt zum Raum nicht verwehrt. Hoffentlich sind diese Leute robust genug. Und wir denken auch an die Anwohner, die jahrelang eine Strahlung erdulden müssen, von der dank den famosen Streugittern niemand die leiseste Ahnung hat, wie gross sie ist. Dem haben wir „blinde Kuh“ gesagt früher, als wir noch Kinder waren. Heute sagt man, je nachdem, die Behörden hätten alles im Griff, oder sie hätten, leider, gar keinen eigenen Spielraum.

Haben die Behörden von Stadt und Kanton X ihre Angst vor den Orange-Anwälten verloren, wenn es in 100 Jahren wieder einen neuen Bahnhof gibt ? Vielleicht können sie dann solche Antennen ganz zuoberst hinauf befehlen, oder mindestens wagen sie in der Baubewilligung anzuordnen, dass der Sender abgestellt werden muss, wenn auf dem Dach gearbeitet wird ? Und wer für die Einhaltung dieser Bedingung zuständig ist, liesse sich auch gleich festhalten, damit die Verantwortlichkeiten klar sind. Ich zweifle nicht daran: Unsere Urenkel werden es erleben! Eigentlich könnte man das schon heute machen, eigentlich dürfte bereits heute jemand den Mut aufbringen und eingestehen, dass auch für „instruiertes Fachpersonal“ die Spielregeln der NISV gelten, und dass Orange wieder einmal Unsinn erzählt.

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Wer die Geschichte nicht glaubt, betrachte einmal die Kabel….
Von Hans-U. Jakob

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